Perspektiven für Kinder: Auf die Kleinsten kommt es an

Für eine zweite Bildungsrevolution

von Kerstin Griese und Harald Schrapers

Der Schulerfolg eines Kindes hängt nirgends so stark vom Geldbeutel der Eltern ab, wie in Deutschland. Das ist ein Skandal. Doch der Wille allein, die soziale Mobilität in unserem Lande wiederherzustellen, reicht nicht aus. In vielen Debatten darüber zeigt sich zunehmende Ratlosigkeit. Ein lautes und deutliches Plädoyer für eine andere, eine zukunftsgerichtete Prioritätensetzung tut Not: Auf die Kleinsten kommt es an, auf ihre Chancen und Möglichkeiten auf Teilhabe an Entwicklungschancen und Bildung, an Integration in die Gesellschaft.

Die Herstellung von sozialer Mobilität war ein Markenzeichen der Sozialdemokratie der siebziger Jahre. Die Bildungsexpansion war ein Erfolgsmodell. In sehr vielen Familien machte seinerzeit erstmals ein Kind das Abitur. Breite Schichten der Arbeiterklasse, denen die Bildungsmöglichkeiten zuvor verwehrt wurden, hatten erstmals die Chance zum sozialen Aufstieg. Die SPD war die Partei der Schwachen, von denen die bildungsbeflissenen Teile die Möglichkeiten durch die Bildungsreform, wie Franz Walter schreibt, „beherzt und prompt“ ergriffen1. Die bildungsfernen, oft ungelernten Arbeiter seien hingegen nie das „wirkliche und aktive Klientel“ der SPD gewesen. Und die sind zurückgeblieben. Die SPD war eben nie die Partei der Schwachen, sondern die Vertreterin der „starken Teile der Schwachen“, präzisierte Walter.

Für den durch die Bildungsreform abgehängten Teil der Bevölkerung hat sich die Situation seit den siebziger Jahren zusätzlich verschärft. Massenarbeitslosigkeit und vererbte Sozialhilfekarrieren gab es damals noch nicht. Und auch kulturell hat sich viel verändert – das Privatfernsehen mit seinen unendlich vielen Kanälen ist der wichtigste Ausdruck dieses Wandels.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nicht die Bildungsreform war der Fehler, sondern die Tatsache, dass sie stecken geblieben ist. Selbst von den sozialen Brennpunkten der Großstädte sind Gymnasien oder Gesamtschulen, in denen man Abitur machen kann, räumlich problemlos erreichbar. Doch die meisten kommen dort trotzdem nicht an.

In den siebziger Jahren haben vor allem die Mütter, deren Bildungschancen besonders eingeschränkt waren, den sozialen Aufstieg ihrer Kinder organisiert. Ihnen war die Rolle der nachmittäglichen Hausaufgabenbetreuerin und punktuellen Nachhilfelehrerin zugewiesen. Und wo das nicht ging, gab es immerhin einige Gesamtschulen, die an drei Tagen in der Woche Nachmittagsunterricht anboten.

Die damalige Bildungsexpansion hat die von der Sozialdemokratie vertretene Arbeiterklasse noch selbst getragen. Dass wir eine neue Phase der Expansion brauchen, liegt auf der Hand. Doch wer ist dabei der Akteur? In den marginalisierten Stadtteilen gibt es immer weniger SPD-Wähler. Selbstorganisation findet dort kaum statt. Damit hat jeder Eingriff von außen immer auch etwas Karitatives und kann leicht ins Paternalistische abrutschen: Schick dein Kind mit einem Frühstück in die Schule! Kümmere dich um seine Hausaufgaben! Und lies ihm ein Buch vor, statt vor dem Fernseher zu hocken!

Wollen wir das? Die britische Labour Party zeigt gelegentlich diese Anflüge moralischer Rigorosität, die mit einer gewissen Illiberalität einhergehen. Dies ist mit den Traditionen der deutschen Sozialdemokratie wenig vereinbar. Trotzdem sollte die SPD einen klaren Standpunkt beziehen und Werte setzen, gerade dann, wenn es um Kinder geht.

Eine kinderfreundliche Gesellschaft zu schaffen, in der die Kinder wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden, ist eine zentrale Aufgabe für die Sozialdemokratie – und nicht nur für die. Denn das Fortschreiben der jetzigen Situation, in der wir einen großen Teil von Kindern in sozial benachteiligten Stadtteilen aufwachsen lassen, wird demokratiegefährdende Folgen haben. Bereits heute besteht für Kinder und Jugendliche ganzer Stadteile die Realität in Aussichtslosigkeit, Sozialhilfemilieu, Schulversagen, Werteverfall, Rechtsextremismus und Kriminalität – im Osten wie im Westen. Sie haben dort geringere Bildungschancen und einen schlechteren Gesundheitszustand als in anderen Wohngegenden. Damit geht eine niedrigere Lebenserwartung einher.

Die zweite Bildungsexpansion

Wir brauchen einen neuen Aufbruch, eine zweite Bildungsexpansion. In den siebziger Jahren weitete sich das Bildungssystem nach oben aus, der Bildungsaufbruch setzte in der zweiten Hälfte der Schullaufbahn an. Gesamtschulen wurden geschaffen und Gymnasien geöffnet. Heute brauchen wir eine wirklich grundlegende Bildungsexpansion von unten und nach vorne – nämlich im Elementarbereich, beim vorschulischen Lernen. Denn wer ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Schule kommt – und dazu gehören immer mehr Kinder auch dann, wenn sie nicht aus Einwandererfamilien stammen – der macht bald schon seine erste „Sitzenbleiber“-Erfahrung. Für diese Kinder stellt sich die Frage nach dem Abitur überhaupt nicht. Ihnen fehlen die Startchancen, die ihnen vom Elternhaus nicht in dem Maße mitgegeben wurden, wie es das deutsche Bildungssystem erforderlich macht.

Kleine Kinder könnten und wollten lernen, ihr „Bildungshunger“ solle deshalb gestillt werden, so die Kulturwissenschaftlerin Donata Elschenbroich2.Ihre Denkfähigkeit sei nicht geringer als die eines Erwachsenen, nur sei naturgemäß die Menge des Vorwissens kleiner. Die Zeit im Kindergarten wäre demzufolge im Idealfall eine Zeit, in der Kinder ohne festgelegten Kanon und ohne Leistungsdruck lernen würden, in der ihr Forscher- und Entdeckerdrang kindgerecht aufgegriffen werden könnte.

Während die Intelligenzleistungen bei Kleinkindern noch eng beieinander liegen, differieren sie später abhängig von der sozialen Schicht ganz erheblich. Offensichtlich ist das Fehlen von Anregung und Förderung in den sozial benachteiligten Schichten ein entscheidender Faktor für die Entwicklung der Intelligenz. Dabei spielen Sprache, sprachlicher Ausdruck und Sprachempfinden die entscheidende Rolle.

Bildung von Anfang an – das ist deshalb der entscheidende Punkt. Der Bund hat durch das Gesetz über die Ausweitung der Betreuung von Unter-Dreijährigen einen Anstoß gegeben. Und die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen hat einen bemerkenswerten Schritt getan: Demnächst sollen schon Zweijährige einen Kindergartenplatz bekommen, und das letzte Kindergartenjahr wird kostenfrei. Auch im Wahlmanifest der SPD ist Ähnliches zu finden, hier soll das Recht auf einen Kindergartenplatz ab dem ersten Geburtstag festgeschrieben werden.

Zu hoffen ist, dass mit der Aufwertung des letzten Kindergartenjahres für die Eltern nicht die Jahre davor an Bedeutung verlieren. Schon heute ist zu beobachten, dass in manchen Stadtteilen Kinder nur ein Jahr lang eine Kindertageseinrichtung besuchen. Und dies sind gerade diejenigen Kinder, die aufgrund ihres Sprachstandes sehr viel langfristiger und mit mehr Zeit gefördert werden müssten. Hier sind Ganztagsangebote sehr dringend erforderlich, weil diesen Kindern im Elternhaus die notwendigen Anregungen nicht gegeben werden.

Einen neuen Schritt, die Eltern mit einzubeziehen, gehen die Briten mit ihrem Modell des Early Excellence Centre. Sie sind frühpädagogische Einrichtungen, „eine Mischung aus Luxuskindergarten für sozial Benachteiligte und Elterntreffpunkt“, wie die Zeit geschrieben hat3. Die Blair-Regierung will mit diesen Zentren – nicht ohne Erfolg – jedem Kind einen Sure Start ins Leben ermöglichen. Hier geht es um Bildung für die Kleinsten – nicht nur durch Sprachförderung, sondern auch durch musikalische, künstlerische, mathematische und naturwissenschaftliche Lernangebote. Hier hat niemand Angst vor vorschulischen Rechen-, Schreib- oder Leseversuchen der Kinder, denn diese lernen spielerisch und sind neugierig auf Bildungsinhalte. In Deutschland dagegen trifft man nicht selten noch auf eine Kultur des Überbehütens und die Angst vor „Überforderung“.

Das Entscheidende an den Early Excellence Centres, die zumeist in sozialen Brennpunkten entstanden sind, ist die Einbeziehung der Eltern. Die Erzieherinnen und Erzieher besuchen die Eltern zu Hause und machen sich dort ein Bild über den Entwicklungsstand des Kindes. In den Zentren selbst werden Familienberatungen und konkrete Hilfen angeboten. Erziehungsberatung und Sprachkurse für Eltern, Gesundheitsberatung, Kochkurse und Arbeitsvermittlung – was zuvor an unterschiedlichen Orten angeboten wurde und die wirklich Betroffenen nicht so recht erreichte, ist hier gebündelt untergebracht. Langfristig sollen diese Kinder- und Familienzentren so ausgebaut werden, dass die Kinder vom Säuglingsalter bis zum zehnten Lebensjahr begleitet werden: Wrap around care nennt das die britische Regierung.

Empowerment ist das Ziel dieser Konzepte, genauso wie die Verbesserung der dramatisch schlechten Gesundheitssituation in vielen marginalisierten Stadtteilen. Dabei kommt man den Eltern nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Sie werden in ihrer Rolle ernst genommen, als Fachleute in Fragen ihres Kindes anerkannt. Sie werden dazu gedrängt, diese Rolle auszufüllen, indem sie die notwendige Hilfestellung erhalten. Ganztagsbetreuung kann die Eltern nur in Notfällen (die es aber auch oft genug gibt) aus der Erziehungsarbeit entlassen. Umgekehrt: Durch eine intensive und individuelle Elternarbeit in den Kindertageseinrichtungen müssen die Eltern fit für ihre Rolle gemacht werden.

Zuvor aber müssen die Erzieherinnen fit gemacht werden. Einige sind es bereits, aber grundsätzlich leiden wir in Deutschland darunter, dass bei uns die Erzieherausbildung nicht auf hochschulischem Niveau stattfindet. Die Idee, man benötige für Kleinkinder eine geringere pädagogische Qualifizierung als für das Unterrichten einer Schulklasse, entbehrt jeder stichhaltigen Begründung. Früher wählten noch Jugendliche mit gutem Schulerfolg aus Neigung und Engagement den Erzieherberuf – ungeachtet der bescheidenen Bezahlung. Das ist heute selten geworden. Am Beginn der Erzieherkarriere steht inzwischen meist ein durchschnittlicher Realschulabschluss. Und es ergreifen nahezu keine Männer diesen Beruf, was dringend geändert werden muss. Denn die Jungen stellen sich immer mehr als eine ganz besondere „Risikogruppe“ heraus. Oft fehlen ihnen die positiven männlichen Rollenvorbilder, nicht nur bei allein erziehenden Müttern, sondern auch in solchen Familien, in denen ein Vater theoretisch vorhanden ist. Im Kindergarten treffen sie bislang kaum auf Männer – und in der Grundschule auch nicht. Das zeigt, dass es nicht nur auf die Bezahlung ankommt, denn ein Grundschullehrer verdient auch nicht weniger als ein Realschulpädagoge. Offensichtlich ist das Berufsbild derart weiblich geprägt, dass der Zugang versperrt erscheint. Hier muss eine gezielte „Männerförderung“ bis hin zu einer Quotierungsregel in die Überlegungen einbezogen werden.

Der Übergang von der Vorschule in die Schule muss fließend sein und sich auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einstellen. Lehrkräfte und Erzieherinnen müssen eng kooperieren, Sprachförderung muss früh und sehr zielgerichtet einsetzen.

Schule muss kindgerecht sein. So wie Kindergärten ihre Erziehungsaufgaben um Bildungsziele ergänzen müssen, muss sich Schule neben der Bildung verstärkt um Erziehungsaufgaben kümmern. Und dafür braucht man Zeit. Da reicht es nicht, die Kinder um kurz nach halb zwölf wieder von der Schule nach Hause zu schicken – oft genug zu Fast Food, Gameboy und TV. Sogar im Kindergarten wurde ihnen mehr geboten.

Das Vier-Milliarden-Ganztagsschulprogramm des Bundes wird im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen als „offene Ganztagsgrundschule“ verwirklicht. Alle, die schon vorher zu wissen meinten, dass dies nicht funktionieren könne, haben sich getäuscht. Die Grundschulen, die bislang mitmachen, vermelden durchgängig Erfolge. Sicherlich gibt es anfänglich Probleme, besonders weil mit den Investitionsmitteln erst die nötigen Bauten errichtet werden müssen. Doch viele Eltern und Kinder haben das Angebot bereits sehr gut angenommen.

Wir werden auch den zweiten Schritt tun müssen: Der Nachmittag muss mit dem Vormittag zu einer Einheit verbunden werden. Für die Schülerinnen und Schüler brauchen wir den stetigen Wechsel zwischen Unterricht, anderen Lernerlebnissen, Sport, Spiel und Bewegung. Dabei kann das Nachmittagspersonal, das Erzieherinnen und Sportanleiter, ehrenamtliche Eltern und andere mit einbezieht, auch vormittags eine Bereicherung sein. Genauso werden die Lehrerinnen und Lehrer die Chance ergreifen müssen, die eine ganztägige Schule bietet. Wer Bildung und Erziehung als eine Einheit sieht, muss mehr Zeit mit den Kinder verbringen, und sie auch außerhalb des Unterrichts kennen lernen – ob beim Mittagessen oder bei Freizeitaktivitäten in einer AG.

„Beinahe ohne öffentliches Begleitgeräusch vollzieht sich die Abschiebung Hunderttausender Kinder auf ein Leben am Rande der Gesellschaft schon bei der Vollendung ihres zehnten Lebensjahres“, schreibt Ulrich Deupmann4. Deshalb können wir uns vor den Fragen der Schulstruktur nicht drücken. Es wird in Zukunft darum gehen, eine Verlängerung der Grundschule, die Schaffung von Gemeinschaftsschulen zu erkämpfen. Denn die Schlacht um die Gesamtschulen haben wir verloren. Weil man sie nicht als einheitliche Schule für alle durchsetzen konnte, haben wir in manchen Regionen nun ein flächendeckendes viergliedriges Schulsystem – plus die Sonderschulen für Lernbehinderte und Erziehungshilfe als fünftes Glied, das von etwa drei Prozent der Schülerinnen und Schüler besucht wird.

Damit ist die Idee der Gesamtschule gescheitert. Denn sie funktioniert nur als isoliertes Modellprojekt, das sich seine Kinder selbst aussuchen darf, oder als „Einheitsschule“. Und letztere wollte oder konnte die Sozialdemokratie nun einmal nicht durchsetzen.

Stattdessen brauchen wir sechs-, acht- oder am besten neunjährige Grundschulen. Es ist keine ideologische Verbohrtheit, wenn wir gerade in Bezug auf die Pisa-Studie die hohe soziale Selektivität unseres vielgliedrigen Schulsystems herausstreichen. Die Zuweisung zu den unterschiedlichen Schulen wird nun einmal dadurch festgelegt, welchen häuslichen Hintergrund das Kind hat. Mittelschichts-Lehrer haben zunehmend Schwierigkeiten im Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die durch das sozial marginalisierte Milieu ihres Umfeldes geprägt sind. Hier ist das Durchreichen im Schulsystem „nach unten“ weniger eine Bequemlichkeit als die systemimmanente Logik.

Eine neue Bildungsexpansion nach unten und die Bekämpfung der sozialen Selektion an den Schulen ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit. Sondern sie sind genauso eine harte ökonomische Notwendigkeit. Selbst wenn wir es schaffen würden, den Geburtenrückgang zu stoppen und umzukehren sowie für eine gesellschaftsverträgliche Zuwanderung zu sorgen, gibt es unumkehrbar einen erheblichen demografischen Wandel. Die Alten werden immer mehr, die Jungen immer weniger. Das steht bereits fest.

Auch wenn die Seniorinnen und Senioren auch im Erwerbsleben länger aktiv bleiben, kommt es in Zukunft verstärkt auf die Jungen an. Alle Prognosen sind sich einig, dass es eine deutliche Ausweitung an Beschäftigung in höher qualifizierten Bereichen geben wird – während einfache Tätigkeiten weiterhin erheblich zurückgehen werden. Ohne das Ausschöpfen der Bildungspotenziale aller jungen Menschen wird unsere schrumpfende Gesellschaft in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Etwa fünfzig Prozent aller Schülerinnen und Schüler müssten eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben. Und Schulabgänger ohne Abschluss dürfte es gar nicht mehr geben.

Armut und Reichtum

Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest sich wie ein dringender Appell für eine zweite Bildungsreform. Armut und Reichtum klaffen in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander, materielle Armut folgt meist aus der Armut der Eltern. „Aber viel kritischer ist es, dass diese ,Vererbung‘ für Bildungsarmut noch viel ausgeprägter ist, und sie wirkt in der Wissensgesellschaft wie ein ausbruchssicheres Gefängnis“, schreibt Jutta Allmendinger5.

Armut geht über materielle Not weit hinaus: fehlende Schulbildung und Gesundheit, Suchtmittel, Erwerbslosigkeit – den Ausbruch aus diesem Milieu können finanzielle Zuweisungen an den Einzelnen meist nicht bewirken. Vielmehr ist Bildung der Schlüsselbegriff. Deshalb ist die zweite Bildungsreform das zentrale Projekt für die Zukunft unserer Gesellschaft: die notwendige Bildungsexpansion „nach unten“.

Wichtig ist, dass diese Bildungsexpansion kein Projekt für die Unterschichten ist, bei denen Sozialarbeiter und Lehrer in den benachteiligten Stadtteilen für Wertevermittlung und Moral sorgen sollen. Es geht tatsächlich um die Gesellschaft insgesamt, deren enormer Wandel in den achtziger und neunziger Jahren verschlafen wurde. Andere Länder hatten damals schon längst erkannt, dass die Gesellschaft ihrer Mitverantwortung an der Erziehung, Förderung und Betreuung bereits der Kleinkinder gerecht werden muss.

Bei der direkten finanziellen Förderung von Kindern liegt Deutschland EU-weit an der Spitze. Bei der Möglichkeit dagegen, Kinder und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren, liegen wir weit hinten. Die Geburtenrate ist in Europa dort am höchsten, wo die Frauenerwerbsquote hoch und die Kinderbetreuung gut geregelt ist. Der von der Prognos AG im Auftrag des Familienministeriums erstellte „Familienatlas“ stellt fest, dass in Deutschland die Kinderzahlen dort hoch sind, wo niedrige Arbeitslosigkeit, geringe Kriminalität und eine vergleichsweise schlechte Kinderbetreuung aufeinander treffen6. „Der Mut zum Kind ist größer, wo traditionelle Familienstrukturen und eine geringe Frauenerwerbsquote zusammenkommen“, stellte Tissy Bruns ernüchtert fest7.

Auch eine Forsa-Erhebung im Auftrag der Zeitschrift Eltern ergab, dass fehlende Kinderbetreuung nur als nachrangige Ursache für Kinderlosigkeit empfunden wird8. Stattdessen sagten 44 Prozent der befragten Kinderlosen, der passende Partner fehle. Gleichzeitig wird klar, dass ökonomische Fragen und die Sorge um den Arbeitsplatz vordringliche Gründe sind, auf Kinder zu verzichten. Der Staat kann aber nicht unbefristete Arbeitsplätze für alle schaffen. Deshalb ist es umso mehr seine Aufgabe, wenigstens für eine tragfähige Kinderbetreuung zu sorgen. Auf diese Weise können die Eltern ihre ökonomische Situation selbst in die Hand nehmen.

Zusätzliche Anreize gäbe ein Elterngeld, wie wir es aus Schweden kennen. Dort handelt es sich um eine Lohnersatzleistung, die ähnlich wie das Arbeitslosengeld aus einer Versicherung gespeist wird.

Für ein Jahr lang würden etwa zwei Drittel des vorherigen Arbeitseinkommens weitergezahlt – so lautet die Elterngeld-Idee, die im Bundesfamilienministerium gereift ist. Klar ist, dass damit die Geburtenrate auch nicht nach oben schnellen würde. Aber es wäre ein Anreiz, dass auch Väter sich mehr an der Erziehungsarbeit beteiligen würden. Deswegen wäre es zusätzlich notwendig, zwei oder drei Monate dieser bezahlten Elternzeit exklusiv für den Vater zu reservieren. Damit könnte im männlichen Teil der Gesellschaft einiges in Bewegung kommen. Zwar erzählen uns die Statistiken meist nur, wie viel – oder wenig – Kinder eine Frau hat. Wir wissen, dass Akademikerinnen doppelt so häufig kinderlos sind, wie Frauen mit Hauptschulabschluss. Dass oft der Mann noch weniger mit Kindern zu tun haben möchte, scheint nicht groß zu interessieren. Dass der passende Partner für den Kinderwunsch fehlt, ist häufiger eine Klage der Frau, als die des Mannes. Ein Wertewandel, angestoßen durch das Elterngeld, wäre somit – wenn auch scheinbar indirekt – ein Schritt auf eine kinderfreundlichere Gesellschaft. Denn ohne engagierte Väter ist die in der heutigen Zeit nicht mehr möglich.

Das Elterngeld wäre eine Maßnahme, um die Zahl der Kinder in den Mittelschichten zu erhöhen. Denn wenn sich in Deutschland nichts ändert, werden Kinder zu einem Privileg sozial benachteiligter und bildungsferner Schichten. Das sind sie teilweise schon heute. Das ist auch eine Erklärung für die schlechten deutschen Bildungsergebnisse in den internationalen Vergleichsstudien.

Weil auch den Kindern in sozial benachteiligten Verhältnissen nicht geholfen ist, wenn Kinderreichtum zu einem Phänomen sozialer Randgruppen wird, muss eine integrative Politik für mehr Kinder in der Mitte der Gesellschaft sorgen. Denn die relativ wenigen Kinder, die dort momentan geboren werden, verlassen diese Mitte – zumindest räumlich. Sie ziehen in die Reihenhaus- und Eigenheimsiedlungen am Rande und außerhalb der Städte. Die geografische Siedlungsstruktur der Städte verbildlicht, was der Gesellschaft insgesamt droht: Kinderreichtum in den großen ehemaligen Arbeitervierteln, die Kinder der Wohlhabenden in den kleinen Eigenheimsiedlungen am anderen Ende der Stadt. Und in der Mitte von Stadt und Gesellschaft werden Kinder zu exotischen Ausnahmen. So verliert die Gesellschaft ein Stück ihrer Zukunftsfähigkeit.

Mehr Geld für Bildung und Betreuung

Bleibt die Frage, wie wir die kinderfreundliche Gesellschaft finanzieren. Oftmals schlagen selbst seriöse Presseorgane und Politiker vor, dies sollten die wohlhabenden Eltern tun, indem sie auf ihr Kindergeld verzichten. Ein seltsamer Vorschlag: Die „Besserverdienenden“ bekommen ja gar kein Kindergeld im engeren Sinne, sondern sie haben einen verfassungsrechtlich garantierten Kinderfreibetrag, der für eine deutlich höhere Steuerersparnis sorgt.

Eigentlich sollten verstärkte Investitionen in Kinder und Bildung auch in Deutschland möglich sein. Schließlich sind viele unserer west- und nordeuropäischen Nachbarländer dazu auch in der Lage. Die können sich französische école maternelles oder finnische Schulen leisten – ohne dass ihr Staatshaushalt auf Überfluss beruht oder es der Gesellschaft an anderen Stellen übermäßig mangelt.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat aufgezeigt, dass der volkswirtschaftliche Gewinn einer Investition in Kindertageseinrichtungen die Kosten um ein Vielfaches übersteigt9. Bereits die Beschäftigung erwerbswilliger Mütter mit akademischer Ausbildung würde für die öffentlichen Kassen Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bedeuten. Pädagogisch hochwertige Kinderbetreuung führe zudem zu Einsparungen: bei den Sonderschulen, bei der Jugendhilfe, der Integration von Einwanderern, bis langfristig hin zur Kriminalitätsvermeidung. Diesen Nutzen zu beziffern wagt das DIW indes nicht. Belegt sei freilich, dass die Rendite einer frühen kindlichen Förderung und Erziehung höher sei als die bei Erziehungsleistungen zu einem späteren Zeitpunkt. Und es hat herausgefunden, wie stark Unternehmen von Investitionen in Familienfreundlichkeit am Arbeitsplatz profitieren würden. Jeder investierte Euro zahle sich dreifach aus: sei es durch kürzere Zeitspannen, in denen hoch qualifiziertes Personal aussetzt, durch eine höhere Arbeitszufriedenheit und Motivation, durch bessere Organisation und niedrigeren Krankenstand.

Recht hat der rheinland-pfälzische Finanzminister Gernot Mittler: „Eigentlich können wir es uns finanziell nicht erlauben, aber wir können uns auch nicht erlauben, es nicht zu machen“, sagte er in Hinblick auf das beitragsfreie letzte Kindergartenjahr, das es in seinem Bundesland ab 2006 geben wird. Vermutlich weiß er, dass die Folgekosten eines Auseinanderbrechens unserer Gesellschaft – nämlich in einen von Armut und fehlenden Bildungschancen geprägten Teil, und einen komfortabel lebenden, oftmals kinderlosen Teil – weitaus höher wären.

1 Franz Walter: Der Wandel des Wertewandels kommt bestimmt, in: Berliner Republik 5/2003

2 Donata Elschenbroich: Weltwissen der Siebenjährigen, München: Kunstmann 2001

3 Martin Spiewak: Wo Mutter mit zur Kita geht, in: Die Zeit 49/2004

4 Ulrich Deupmann: Die Macht der Kinder, Frankfurt/M.: S. Fischer 2005

5 Jutta Allmendinger: Im Mittelpunkt – Der Mensch, Beitrag zum 4. SPD-Programmforum am 19.5.2005

6 Matthias Bucksteeg u.a.: Potenziale erschließen – Familienatlas 2005, hg. vom Bundesfamilienministerium 2005

7 Tissy Bruns: Kleine Freuden, in: Der Tagesspiegel 19.1.2005

8 Britta Pohl: Mehr Kinder. Mehr Leben, 19.10.2004

9 C. Katharina Spieß, Kosten und Nutzen von Kinderbetreuung, in: Renate Schmidt, Liz Mohn (Hg.): Familie bringt Gewinn, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2004

aus Hubertus Heil und Juliane Seifert (Hg): Soziales Deutschland. Für eine neue Gerechtigkeitspolitik, Wiesbaden: VS 2005, S. 103–112