Jitzhak Rabin ist tot

von Harald Schrapers

Es ist Samstagabend, der Schabbat ist zu Ende, und es beginnt in Tel Aviv eine der größten Friedenskundgebungen in der Geschichte Israels. Die Arbeitspartei, ihr Koalitionspartner Meretz, die Frieden jetzt-Bewegung und die Tel Aviver Stadtverwaltung haben aufgerufen. Ofer Dekel, der Vorsitzende der Arbeitspartei-Jugend, rechnet mit 50.000 bis 100.000 KundgebungsteilnehmerInnen. Aber noch vor Kundgebungsbeginn zeichnet sich ab, daß er zu niedrig gegriffen hat. In riesigen Gruppen kommen die DemonstrantInnen, viele Teenager tragen das blaue Hemd der Arbeiterjugendbewegung Noar Oved, auch viele palästinensischen Israelis treffen ein. Am Ende, so die Frankfurter Allgemeine, werden 200.000 TeilnehmerInnen gezählt. Das sind knapp vier Prozent der Bevölkerung Israels.

Dies ist endlich mal wieder eine große Friedensdemonstration in Israel, die erste seit mehreren Jahren. Doch sie kommt zu spät. Das kostete dem Ministerpräsidenten und Vorsitzenden unserer Schwesterpartei Avoda womöglich das Leben. Längst haben die Friedensgegner ein Klima des Hasses produziert, das Fanatiker ermutigte, den „Verräter“ Jitzhak Rabin zu ermorden. Aus den vielen Anti-Regierungsdemonstrationen wurde – unter dem mehr oder weniger beifälligen Nicken der Oppositionsparteien – der Tod Rabins gefordert und zuletzt im johlenden Mob eine Rabin-Puppe in SS-Uniform gezeigt.

Die Kundgebung in Tel Aviv

Musikgruppen und bekannte Künstler eröffnen die Kundgebung, auch der Botschafter Marokkos spricht als einer der Ersten. Um fünf nach acht – mit einer Liveschaltung zur Hauptnachrichtensendung – tritt Außenminister Schimon Peres unter Ovationen ans Rednerpult und beschwört den Friedenskurs. Nach nur drei, vier Minuten macht er Platz für Jitzhak Rabins ebenfalls sehr kurze Ansprache. Die Begeisterung und die demonstrative Unterstützung für die Regierung und Rabin selbst schwillt noch weiter an. Ofer Dekel übersetzt für mich die Rede Rabins: „Ich war 27 Jahre lang ein Mann des Militärs. Ich habe Krieg geführt solange es keine Chance auf Frieden gab. Ich glaube, jetzt gibt es diese Chance, eine große Chance, und wir müssen sie nutzen.“ Ausgerechnet bei dem emotional zurückhaltend wirkenden Rabin werden Sprechchöre angestimmt: „Rabin, Rabin“. Dekel bemerkt, daß sogar die kleine Gruppe Kommunisten neben uns mit anstimmt. „Wenn Rabin das wüßte.“ Man konnte es ihm nicht mehr sagen. „Und ihr, indem ihr zu dieser Kundgebung gekommen seit, beweist, daß das Volk wirklich Frieden will und gegen Gewalt ist“, ruft Rabin, der fast prophetisch anfügt: „Gewalt zerfrißt die Grundlage der israelischen Demokratie.“

Anderthalb Stunden später ist Jitzhak Rabin tot. Ich bin schon fast wieder in Jerusalem, als der Anschlag gemeldet wird. Danny Bobman, der internationale Sekretär der Labour Youth, ruft mich an und bestätigt die schreckliche Meldung.

Am nächsten Morgen liegt eine lähmende Trauer über dem ganzen Land. Mit den aktuellen Morgenzeitungen in der Hand lesen die Menschen mit Tränen in den Augen die Nachrichten.

Ein Held des Friedens

Ich rufe Ofer Dekel an und spreche ihm im Namen aller Jusos unser tiefes Mitgefühl aus. Ofer Dekel ist kaum in der Lage, mir zu antworten. Er erzählt am nächsten Tag, daß er mit seinem Parteivorsitzenden immer eng verbunden war. Rabin sei der Grund für seinen Eintritt in die Arbeitspartei gewesen. Er sei eine Art „politischer Ziehvater“ gewesen. Er habe Rabin auch in den Jahren unterstützt, als er noch in der parteiinternen Minderheit gewesen sei. Jitzhak Rabin habe fast nie Emotionen gezeigt. Seine Familie sei mit den Werten der russischen Revolution nach Israel gekommen, Rabin sei von dieser äußerlich emotionslosen Disziplin geprägt gewesen.

„Wie kann es sein, daß eine einzelne Person meint, derart in die Geschichte eingreifen zu dürfen?“ Ofer Dekel kann die Tat nicht fassen. „Rabin hat seine Arbeit nicht beenden können.“ Beim Vorsitzenden der Labour Youth paart sich die tiefe Trauer mit der Angst, daß der Friedensprozeß nicht fortgesetzt werden könne. Das Volk habe Rabin vertraut.

Schimon Peres ist der Nachfolger Rabins. Viele Jahre haben die beiden heftigste parteiinterne Kämpfe ausgetragen. Doch seit Rabins Wahl zum Ministerpräsidenten haben die beiden perfekt und ohne Vorbehalte zusammengearbeitet. Der Visionär Peres war als Außenminister „der Architekt“ (Die Zeit) des Abkommens mit der PLO, während Rabin „der Baumeister“ war.

Rabin, der beim Ausbruch der Intifada Verteidigungsminister war, wollte den protestierenden PalästinenserInnen damals noch „die Knochen brechen“. Sein Wandel zum Baumeister des Friedens ist umso beeindruckender. Bei der Abstimmung über das jüngste Oslo 2-Abkommen bekam Rabins Minderheitsregierung nur noch eine hauchdünne 61 zu 59-Mehrheit in der Knesset zusammen. Selbst Rabins Parteifreund, der Staatspräsident Eser Weizman, bestand auf einer breiteren Mehrheit für die Fortsetzung des Friedensprozesses. Jitzhak Rabin war jedoch entschlossen, seinen Kurs auch mit einer hauchdünnen Ein-Stimmen-Mehrheit weiterzuverfolgen. Die 200.000 vom Tel Aviver Kikar Malchei Jisrael hätten in dieser Haltung zusätzlich bestärkt.

Selbstverständlich wird die neue Peres-Regierung den Friedensprozeß vorantreiben und damit das Vermächtnis Jitzhak Rabins bewahren wollen. Doch wird die Bevölkerung Schimon Peres dabei das Vertrauen entgegenbringen, das sie – dem „Held aller Kriege“ – Jitzhak Rabin entgegengebracht hat? Der Friedensprozeß, bedroht von Gegnern auf beiden Seiten, hängt weiterhin am seidenen Faden.

Ofer Dekel sagt mir, daß die Likud-Jugend um ein Gespräch mit ihm gebeten habe. Er habe abgelehnt. Die hätten sich durch dieses Gespräch rehabilitieren wollen. „Warum soll ich ihnen das geben, wo auf ihren Demonstrationen der Tod Rabins gefordert wurde? Sie haben dieses Klima erzeugt“, erkennt Dekel eine Mitschuld der israelischen Rechten an der Ermordung des Friedensnobelpreisträgers.

Trauer bei den Palästinensern

Noch am Nachmittag des Sonntags treffe ich Hussam Schaheen und Samer Sinjilawi vom Sekretariat der palästinensischen Fatah-Jugend. Sie sind äußerst bedrückt. Sie hatten sich von der Kundgebung in Tel Aviv einen neuen Schwung für den Frieden erhofft. Schaheen schildert mir die Angst, die er hatte, als der Anschlag bekannt wurde. „Wenn es ein Palästinenser gewesen wäre, wäre der Friedensprozeß sofort zu Ende gewesen.“

Mit Mahmoud Abu Eid von der Palästinensischen Volkspartei gehe ich am Abend hoch zur Knesset. Hunderttausende stehen in unendlichen Schlangen an, um zum Sarg Rabins zu gelangen. Viele schaffen es trotz stundenlangen Stehens nicht, bis nach vorne zu kommen. Unzählige Kerzen, die Seelenlichter, beleuchten die Trauernden.

Am nächsten Tag bin ich wieder auf dem Kikar Malchei Jisrael, dem inzwischen in Jitzhak-Rabin-Platz umbenannten „Platz der israelischen Könige“. An einer angrenzenden Nebenstraße ist die Treppe, die Rabin von der großen Terrasse des Stadtverwaltungs-Gebäudes zu seinem Wagen runtergehen mußte. Ein Berg Blumen markiert die Stelle. Drumherum hunderte von Kerzen. Die Menschen stehen in einem großen Kreis. Einzelne Jugendliche gehen rum und zünden die erloschenen Kerzen wieder an.

Der ganze Platz der Kundgebung vom Samstag ist übersät von Seelenlichter, Zetteln mit Gedichten und Zeitungsfotos. Und zum Abend hin kommen immer mehr Menschen auf den Platz. Später wird das Fernsehen 50.000 Trauernde zählen. Sehr viele Jugendliche sind unter ihnen. „Jugendliche brauchen eine Möglichkeit, ihre Gefühle auszudrücken“, sagt mir Ronit Menda, die Pressesprecherin der Arbeitspartei-Jugend.

Die Labour Youth hat ein Zelt auf dem Kikar Malchei Jisrael aufgebaut, in dem sie zunächst zwei Kondolenzbücher auslegt. Aber als Hunderte versuchen, in das Zelt zu kommen, werden in aller Eile weitere Schreibblocks organisiert. Viele Leute tragen sich mit sehr langen Texten ein. Kaum jemand beläßt es bei einem Satz. Eine junge Genossin fängt an zu weinen. Ofer Dekel versucht sie zu trösten. Der Mord an Jitzhak Rabin bleibt unfaßbar.

aus dem niederrhein magazin 6/95

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