Alles arbeitet

Historischer Umbruch: Das Ende der Arbeitsgesellschaft?

von Harald Schrapers

Arbeit ist ein zentrales Merkmal der modernen Industriegesellschaften im Westen – und war es genauso auch im untergegangenen Gesellschaftssystem des Ostens. Die abhängige Erwerbsarbeit, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden ist, ist erzwungene Arbeit, denn nur wer arbeitet, kann überleben.

Der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf bezeichnet die Arbeitsgesellschaft als eine Gesellschaft, „die Arbeit in eigene Rollen faßt und diesen Rollen eine prägende Bedeutung im Leben der Menschen zumißt.“ Die Arbeit werde zum Zentrum der Gesellschaft, alle anderen Lebensbereiche, typisch die Ausbildung (Fertigkeiten für die Arbeit), die Freizeit (Energie für die Arbeit) und der Ruhestand (Lohn für die Arbeit), seien auf die Erfordernisse der Arbeit ausgerichtet.

Geschichtlicher Wandel: Die Entwicklung der Arbeit

Die Neuzeit verändert den Stellenwert der Arbeit gegenüber dem der Nichtarbeit ganz erheblich. Lange Zeit galt Nichtstun, „vita contemplativa“ (Hannah Arendt) oder wenigstens die kreative Tätigkeit als wesentlich höher angesehen als die durch Notwendigkeit bedingte Arbeit.

Da produktive Arbeit die grundlegende Antriebsfeder in der industriellen Gesellschaft wurde, war eine positive Bewertung der Arbeit notwendig geworden. Die Reformation, die entstehenden politisch-ökonomischen Theorien und die bürgerliche Revolution boten dabei die notwendige ideologische Grundlage.

Gerade im Selbstverständnis der Arbeiterbewegung nimmt die Arbeit eine zentrale Stellung ein. Die Organisation der von Arbeit „Betroffenen“ will die Arbeit nicht überwinden.

In der marxistischen Vorstellung wird Emanzipation durch die Aneignung der Gesamtheit der Produktivkräfte erreicht. Nicht die Abschaffung der Arbeit sei die Abschaffung von Herrschaft, sondern das Durchschauen des Produktionsprozesses, die Überwindung der Entfremdung. Diese Entfremdung sei in erster Linie eine Folge der Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln, die es umzugestalten gelte. Arbeit bleibt aber eine gesellschaftliche Pflicht, eine moralische Aufgabe.

Der in Wien geborene französische Philosoph André Gorz kritisiert massiv das Festhalten an einer arbeitsgesellschaftlichen Utopie. Die Vorstellung, daß die Einzelne sich den Produktionsprozeß vollständig aneignen könne, ihn durchschauen könne, sei falsch. Die Spezialisierung und Arbeitsteilung ist viel zu weit fortgeschritten.

Eine moralische Qualifizierung der Arbeit kann unter solchen Bedingungen nur den Versuch der Aufwertung abstrakter Arbeit bedeuten. Persönlich selbstgesetzte Ziele können wegen der spezialisierten Arbeitsteilung unmöglich greifen.

In einer solchen Situation zu verlangen, die Einzelne solle sich mit der Arbeit identifizieren und in ihr Lebenserfüllung sehen, ist zusätzlich repressiv.

Legitimiert wird bei dieser moralischen Wertung der Arbeit auch die Fremdbestimmung durch die mittels Technik hervorgerufene systematische Disziplinierung der Arbeit. Technik produziert Sachzwänge, die durch ihre ideologisch vorgetragene „Neutralität“ und „Wertfreiheit“ besonders effizient fremdbestimmtes Arbeiten hervorruft.

Gorz macht deutlich, daß in einer Gesellschaft, die auf einem komplexen ökonomischen System beruht, eine Aufhebung der Entfremdung nicht möglich ist. Der Zweck der Produktion und die Beschaffenheit des Erzeugnisses muß außerhalb des Zugriffs des einzelnen bleiben, egal welche Freiheiten er bei der Organisation seiner bestimmten Arbeit genießt.

Der Politologe Johano Strasser und der Physiker Klaus Traube sehen einen grundsätzlichen Frustrationsmechanismus in der Industriegesellschaft, hervorgerufen durch die strikte Trennung von Arbeit und Bedürfnissen in der Konsumgesellschaft. Arbeit und Konsum werden in zwei Sphären gespalten. „Unlust“ in der Arbeit wird durch „Lust“ im Konsum aufgewogen, wobei der hedonistisch (Lust und Genuß sind das höchstes Gut des Lebens) verstandene Mensch versucht, das „Lustnetto“ zu maximieren.

Der Rückgang des Stellenwerts der Arbeit

Fünf Aspekte, so der Soziologe Klaus Offe, seien prägend für die Arbeitsgesellschaft. Dies ist zum einen die Tatsache der Erwerbsabhängigkeit, was für die Mehrheit der Bevölkerung gilt. Arbeit gibt Autoritätsverhältnisse vor, die die Arbeit im Betrieb organisiert. Zum dritten schwebt jede Erwerbstätige in der latenten Gefahr, die Erwerbschancen zu verlieren. Diese drei Aspekte sind unstreitig Elemente der heutigen Gesellschaft.

Strittig sind dagegen zwei andere Folgen der Arbeitsgesellschaft. Zum einen wird von einem Vereinheitlichungseffekt durch Arbeit ausgegangen, der durch die weitgehende Standardisierung der Arbeit im Betrieb hervorgerufen wird. Die Einheitsgewerkschaft macht sich diese These der Vereinheitlichung zu eigen und macht den Arbeiter so zum gesellschaftlich handelnden Faktor.

Zum zweiten, und dies ist die Voraussetzung der ersten Annahme, wird die These aufgestellt, daß die Einzelne Selbstbewußtsein in der Arbeit fände, daß es einen „kollektiven Produzentenstolz“ gebe.

Offe hält diese beiden Thesen angesichts der Differenzierungsprozesse, hervorgerufen durch den ökonomischen, organisatorischen und technischen Wandel, für wenig stichhaltig. Lohnabhängigkeit kann heute durchaus damit verbunden sein, Träger von Autorität innerhalb des Betriebes zu sein. Zunehmende Bedeutung erlangen Arbeiten, die nicht mehr im formellen Rahmen, sondern im informellen Bereich stattfinden. Wichtigstes Element der Differenzierung der Arbeit ist die ständige Ausdehnung dienstleistender Tätigkeiten gegenüber produzierenden.

Die Dienstleistungsarbeit ist eine Folge der Industriegesellschaft, die elementar auf die Arbeit in der Produktion gründet. Doch die Folgen, hervorgerufen durch die Komplexität der Industriegesellschaft, verlangen nach pädagogischen, therapeutischen, polizeilichen und Kommunikation sicherstellenden Dienstleistungstätigkeiten.

Diese Dienstleistungsarbeit unterscheidet sich wesentlich von der herstellenden Arbeit. Dort gibt es kaum Knappheits- bzw. Effizienzprobleme, die mit der in der Produktion vergleichbar sind. Dienstleistungen sind nicht in dem Maße normierbar, für sie können keine echten Wirtschaftlichkeitskriterien aufgestellt werden.

Damit ist der Charakter dieser Arbeit grundsätzlich unterschiedlich, sie prägt nur noch der gemeinsame Name. Von einem Vereinheitlichungseffekt durch Arbeit, gegründet auf einem „kollektiven Produzentenstolz“, kann also nicht die Rede sein. Weiterhin stellt die Schaffung einer „neuen Klasse“ der in den Dienstleistungen Arbeitenden eine grundlegende Infragestellung der Industriegesellschaft dar.

Die subjektive Wertschätzung der Arbeit

Ein hoher Stellenwert der Arbeit kann in einer Gesellschaft entweder durch normierte Pflicht, also durch die Vermittlung von Werten, hergestellt werden, oder durch installierten Zwang, das heißt, durch die Notwendigkeit zu arbeiten, um leben zu können. Offe bezweifelt die heutige Wirksamkeit dieser beiden Elemente.

Der wertorientierten Pflicht zu Arbeiten stellt sich die enorm aufgesplitterte Arbeitsteilung (Taylorismus) entgegen. Der human factor muß um die Qualität der Produktion willen immer weiter zurückgeschraubt werden. Die Vermittlung einer besonderen Hochwertigkeit der Arbeit ist so kaum noch möglich.

Die Lebensmilieus, insbesondere das Proletariat, die nach Arbeits- bzw. Berufszugehörigkeiten homogen zusammengesetzt sind, existieren nicht mehr.

Die Zeitstruktur der Arbeit hat sich radikal verändert. Es gibt kaum noch auf einen Beruf bezogene kontinuierliche Biographien. Die Lebensarbeit nimmt erheblich ab. Die Freizeit nimmt einen immer größeren zeitlichen Stellenwert ein und ist völlig unabhängig von der Erwerbsarbeit. Darüberhinaus nimmt angesichts von Massenarbeitslosigkeit die Stigmatisierung der Erwerbslosigkeit ab.

Ein Festhalten an der Arbeitsideologie bei gleichzeitiger Massenarbeitslosigkeit würde die Legitimation des Staates in Frage stellen. Notwendig wäre ein Abbau des Sozialstaates, da der Wohlfahrtsstaat die Arbeit zu teuer macht.

Mehr Arbeit, mehr Wirtschaftswachstum, heißt nicht automatisch ein Mehr an Lebensqualität. Viele haben erkannt, daß Arbeit die natürliche Umwelt zerstören kann. Es muß anders produziert werden, zum Teil muß schlicht weniger produziert werden.

Den subjektiven Stellenwert der Arbeit durch Zwang zu erhöhen, kann sowohl durch positive Anreize als auch durch negative Sanktionen erfolgen. Ein klassisches Mittel wäre die Einkommenszuteilung. Allerdings zeigt sich, daß auf einem relativ hohem Einkommensniveau ein Effekt in Bezug auf die Motivation nur noch bei einer Senkung des Einkommens erzielt wird. Immer häufiger werden dem Einkommen auch die Kosten entgegengestellt, „Arbeitsleid“ wird immer weniger hingenommen.

Das risikogesellschaftliche Unterbeschäftigungssystem

André Gorz, seiner Utopie der Befreiung von der Arbeit folgend, will den erheblich zurückgehenden Umfang der Erwerbsarbeit dazu nutzen, Eigenarbeit und insbesondere autonomen Tätigkeiten in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken. Der Bamberger Soziologe Ulrich Beck bleibt erstmal pessimistischer und bemüht die Dialektik (Denken in Gegensatzbegriffen), um die Entwicklung der Arbeitsgesellschaft zu beschreiben. Es spricht von einem industriegesellschaftlichen Beschäftigungssystem mit einer radikalen Gegenalternative.

Nichtarbeit oder Beschäftigungslosigkeit ist genau wie informelle Arbeit im heutigen System die Antithese (Gegenbehauptung) zur formellen Erwerbsarbeit. Die formelle Arbeit zeichnet sich durch ein hohes Maß an Standardisierung aus. Standardisiert ist der Arbeitsvertrag, der Arbeitsort und die Arbeitszeit.

Als Synthese (Verbindung zweier gegensätzlicher Begriffe) bezeichnet Beck ein System risikogesellschaftlicher Unterbeschäftigung. In ihm sind die formelle und informelle Arbeit verschmolzen, das System zeichnet sich durch ein hohes Maß an Entstandardisierung aus. Die Arbeit wird flexibler, unterschiedlicher und risikoreicher.

Beck sieht auf der einen Seite positive Aspekte in diesem System der Unterbeschäftigung. Die Freiheit von der Arbeit und Selbstbestimmung in der Arbeit steigen. Dem stehen aber neuartige Zwänge und materielle Unsicherheiten gegenüber. Insgesamt ist ein kollektiver Abstieg zu prognostizieren, zumal vorerst von einer Spaltung des Arbeitsmarktes in industriegesellschaftliche Beschäftigung und risikogesellschaftliche Unterbeschäftigung auszugehen ist.

Ein neuer Alltag

Es gibt ein Zurückdrängen der Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Einzelnen – objektiv und subjektiv. Klaus Offe liefert dazu eine Reihe von Hinweisen. Ungeklärt bleibt jedoch die Frage nach der Intensität, nach dem Ausmaß und dem zeitlichen Horizont dieser Entwicklung. So läßt sich grundsätzlich nur die Tendenz feststellen, in die sich die Gesellschaft und ihre Einstellung zur Arbeit bzw. Erwerbsarbeit entwickeln.

Offensichtlich ist auch die Tendenz der zunehmenden Individualisierung, welche darüber bestimmt ist, daß die Rolle der Einzelnen nicht mehr allein über ihre Stellung in der Erwerbsarbeit bestimmt ist. Der wesentliche Veränderungsschub, die Auflösung der standes- bzw. berufsbezogenen Lebensmilieus, liegt längst hinter uns.

Ein radikales Gegenüberstellen der Arbeitsgesellschaft und etwa der Freizeitgesellschaft zeichnet kein differenziertes Bild der Realität. In der Gesellschaft sind und werden weiterhin viele Elemente der Arbeitsgesellschaft wirksam sein. Denn die „sozial notwendige Arbeit“ wird immer einen großen Umfang haben, der aufgrund veränderter Bedürfnisse immer neu bestimmt wird.

Ein Hauptproblem der Diskussion über die Arbeitsgesellschaft ist die Definition des Begriffs Arbeit. Mal ist nur die Erwerbsarbeit gemeint, mal wird Hausarbeit und Eigenarbeit hinzugezählt, mal heißt es, alles arbeitet. Dies ist nicht nur ein sprachliches Problem. Denn Arbeit wird zunehmend in den verschiedenen Erscheinungsformen geleistet und wahrgenommen.

Bei der Verwendung eines weiter gefaßten Arbeitsbegriffs ist ein Ende der Arbeitsgesellschaft nicht zu erkennen. Es gibt eine Veränderung der Arbeitsgesellschaft – die sich für manche als Krise darstellen kann.

aus dem niederrhein magazin 6/94