Modernisieren oder reformieren

von Harald Schrapers

„Modernisierung“ ist das Zauberwort, mit dem Gerhard Schröder die Sozialdemokratie in Deutschland und Europa in die Zukunft führen will. 23 mal sind die Begriffe „modern“ bzw. „Modernisierung“ im Schröder-Blair-Papier zu finden, hat die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit nachgezählt. Solch eine gebetsmühlenartige Frequenz sei Ausdruck einer Ideologie. Und zum Wesen einer Ideologie gehöre, dass keinerlei Einigkeit bestehe, was mit dem Begriff, der Modernisierung, eigentlich gemeint sei.

In den 60er und 70er Jahren habe es einfach Fortschritt geheißen. Später ging es dann daran, die Fortschrittsfolgen zu reparieren – die „Postmoderne“ erkannte die „Grenzen des Wachstums“. Die Tatsache der begrenzten Ressourcen an „Energie, Natur, Kapital, Tradition und Gemeinsinn“ schien Allgemeingut zu sein, doch nun: „der Fortschrittsglaube erhebt noch einmal sind bemoostes Haupt“, beschreibt der Zeit-Redakteur Jan Ross die Folgen der Modernisierungsdebatte. „Alles soll immer schneller umgewälzt werden, damit es im Kern bleibt, wie es ist“, beschreibt Johano Strasser in seinem jüngsten Buch („Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“) ein Merkmal des kapitalistisch-industrialistischen Systems.

Die Modernisierung habe, wie alle Ideologien, den „neuen Menschen“ vor sich: „Einen Wechselbalg aus Emanzipation und Konkurrenzfähigkeit, unternehmerisch die eigene Existenz bewirtschaftend und auf dem Markt der Lebensangebote ein souveräner Kunde“, meint die Zeit. Dieses Bild vor Auge solle der Mensch an die Gesellschaft angepasst werden und umgekehrt – dies sei der „dogmatische Kern der scheinbar so undogmatischen Modernisierung“.

Früher sei Fortschritt noch der Kampfbegriff gegen Konservativismus und Reaktion gewesen. Modernisierung dagegen sei das, was ohnehin ablaufe. „Es gibt, so die Botschaft, eigentlich nichts zu erwägen und zu entscheiden“, schreibt Jan Ross. Modernisierer seien von der Last befreit, eine eigene Position beziehen zu müssen. Wenn man schon zu oft auf die falschen Pferde gesetzt habe, und dies sei das Gefühl einer ganzen politischen Klasse, dann wirke es wie eine Erlösung, wenn der ehemalige Juso-Bundesvorsitzende Gerhard Schröder entdeckt, dass es keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik gebe. „Der Modernisierungsglaube verspricht Sicherheit; wie im Marxismus darf man sich als williger Vollstrecker historischer Gesetze fühlen, nur ohne die Fährnisse der Klassenkampfes und ohne das Risiko, dabei auf die Nase zu fallen“, schreibt die Zeit zu Beginn ihrer Serie „Ideologiekritik“ über das „Wörterbuch der Modernisierer“.

Modische Marktwirtschaft

“Wir wollen eine Gesellschaft, die erfolgreiche Unternehmer ebenso positiv bestätigt wie erfolgreiche Künstler und Fußballspieler und die Kreativität in allen Lebensbereichen zu schätzen weiß.“ Dieser Satz aus dem Schröder-Blair-Papier stößt auf heftige Kritik – beim Duisburger Alt-Oberbürgermeister Josef Krings genauso wie bei Pierre-Antoine Molina, dem französischen Vorstandsmitglied der Europäischen JungsozialistInnen. Molina bezweifelt, ob angesichts solch einer Aussage ernst genommen werden könne, was Blair und Schröder an anderer Stelle postulieren: „Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eine Marktgesellschaft.“

Wer Sozialleistungen auf die „wirklich Bedürftigen“ beschränken wolle, zerstöre die Legitimationsgrundlage des Sozialstaats als „,geheime Geschäftsgrundlage‘ der Demokratie“, schreibt Thomas Meyer für die Grundwertekommission der SPD. Eine „Orientierung an echter Hilfe zur Selbsthilfe“ fordert Johano Strasser, auch er Mitglied der Grundwertekommission, um dadurch die Legitimationsgrundlagen des Sozialstaates neu zu festigen.

Das Schröder-Blair-Papier hat nicht unrecht, wenn es fordert, dass der Sozialstaat weniger Netz und mehr Trampolin sein solle. Denn in den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist der Fall ins soziale Netz nicht mehr die seltene Ausnahme – auf die bereits nach wenigen Wochen eine neue Vollzeitbeschäftigung folgt. Die Sozialpolitik muss deshalb in weit größerem Maße arbeitsmarkt- und damit wirtschaftspolitisch verstanden werden. In der Konsequenz heißt das: Sozialpolitik wird eher noch mehr Menschen betreffen, als dies bisher der Fall ist.

Reformistische Linke: Alternative zwischen Modernisierern und Traditionalisten

Der reformistischen Linken in der SPD fehlt es zur Zeit an einem vermittelbaren Projekt. Dieses Vermittlungsproblem hat eine Ursache darin, dass die Linke zwischen den Modernisierern und den Traditionalisten – egal ob sich diese links oder rechts nennen – droht, zerrieben zu werden. Denn diese Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne verkürzt die Thematik erheblich, denn beide Seiten sind sich in einem einig: in ihrem recht naiven Fortschrittsbegriff, der die Grundlagen der industrialistisch-kapitalistischen Gesellschaft kaum in Frage stellt.

Eine reformistische Linke muss dagegen etwas tun, was unpopulär zu sein scheint: die „Systemfrage“ stellen. Denn die Bekämpfung der Massenerwerbslosigkeit muss die zentrale Aufgabe sein. Und im Zuge des tiefgreifenden Wandels der Arbeitsgesellschaft kann dies nicht mehr mit alten „systemimmanenten“ Rezepten bekämpft werden, insbesondere wenn diese zudem nachhaltig sein sollen. Hier irrt sich auch ein früher so reformfreudiger Oskar Lafontaine, wenn er zuerst eine „alternative Wachstumsstrategie“ zur Bewältigung der Beschäftigungskrise fordert. Dabei war es ausgerechnet seine Ko-Autorin Christa Müller, die in den 80er Jahren die Polemik des Marx-Schwiegersohns Paul Lafargue gegen das „Recht auf Arbeit“ in die Juso-Diskussion einführte und damit die Notwendigkeit der Veränderung des industrialistisch-kapitalistischen Systems begründete.

Radikale Arbeitszeitverkürzung

Um die Erwerbsarbeit geht es in der Auseinandersetzung zwischen den sozialdemokratischen Strömungen. Die Traditionalisten halten Wachstum und Vollbeschäftigung im Sinne von Vollerwerbstätigkeit weiterhin für möglich und erstrebenswert. Auf die Nachhaltigkeit und die künftigen Generationen nehmen sie dabei recht wenig Rücksicht. Die Modernisierer – auch sie „systemimmanent“ – wollen mit staatlichen Subventionen eine erhebliche Ausweitung unproduktiver Dienstleistungstätigkeiten erreichen. Johano Strasser, der Anfang der 70er Jahre undogmatischer „Juso-Chefideologe“ war, stellt da die Frage „nach dem tieferen Sinn einer solchen Subventionierung von Erwerbsarbeit, auf die wir – jedenfalls zum großen Teil – allem Anschein nach ganz gut verzichten können.“

Für eine reformistische Linke steht dagegen die Arbeitszeitverkürzung im Mittelpunkt. Dabei geht es – neben klassischer tarifvertraglicher Politik – darum, ins Zentrum der Reformpolitik die Förderung „freiwilliger (Teil-)Arbeitslosigkeit“ zu stellen. Denn dies ist die notwendige Grundlage dafür, dass das verbleibende Erwerbsarbeitsvolumen so gleichmäßig wie möglich verteilt werden kann. Damit erreicht die reformistische Linke zweierlei: Zum einen erkennt sie, dass wir, so Strasser, in den hochindustrialisierten Ländern die Möglichkeit hätten, zu realisieren, „wovon Lafargue träumte.“ Zum anderen tritt sie radikaler als alle Anderen dafür ein, dass jede, die arbeiten will, das umzusetzende Recht auf eine Erwerbstätigkeit habe.

Nach wie vor wird Erwerbsarbeit eine wichtige Rolle im Bewusstsein der Menschen spielen. Der Zynismus des angeblichen Ideals eines lebenslangen und bestens tarifvertraglich ausgestatteten Vollzeitarbeitsplatztes hat jedoch mit echter Reformpolitik nichts zu tun.

Fritz W. Scharpf, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, war schon vor vielen Jahren der Meinung, dass die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung mit den Mitteln staatlicher Wirtschaftspolitik – „und das heißt in der heutigen Praxis: durch Subventionierung der Kapitaleinkommen“ – aussichtslos sei. Er verfocht die Konzentration der Politik auf „eminent politische“ Verteilungsfragen. „Für solche Entscheidungen über die Verwendung des von der kapitalistischen Ökonomie nach wie vor erzeugten Reichtums hat die demokratische Politik eine wesentlich besser legitimierte Kompetenz als für die überaus komplexen Fragen einer beschäftigungswirksamen Wirtschaftspolitik.“

Scharpf war einer derer, der mit einem Negativsteuermodell – manche sprechen auch von Bürgergeld oder Grundeinkommen – den Grundstein für etwas gelegt hatte, was sich in der Folge zu einem Projekt der reformsozialistischen Linken bei den Jusos entwickelte.

Denn dieses Modell bietet einen systemverändernde Ansatz für den Abschied von der industrialistischen Arbeitsgesellschaft. Damit ließe sich der Sozialstaat von der Erwerbsarbeit zu einem erheblichen Anteil abkoppeln, „freiwillige (Teil-)Arbeitslosigkeit“ wird möglich und die „Armutsfalle“ der Sozialhilfe, die Menschen in unfreiwilliger Arbeitslosigkeit belässt, wird beseitigt. Zudem wissen wir – durch Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung – heute, dass solch ein Ansatz finanzierbar wäre.

Allein die Vermittelbarkeit dieses Projekts lässt zu wünschen übrig. Die Vielzahl der Bezeichnungen – Negativsteuer, Bürgergeld, Grundeinkommen, allgemeines Sozialeinkommen – sorgt für Verwirrung. Außerdem werden namensgleiche Konzepte auch von manch Konservativen, Wirtschaftsliberalen und Modernisierern verfochten. Letztere verfolgen diese, um damit gezielt den Einstieg in die Dienstleistungsgesellschaft zu fördern, wodurch letztlich doch wieder ein indirekte Subventionierung von Kapitaleinkommen erfolgen würde. Trotzdem sollte die Linke die enormen emanzipativen Potenziale, die ein reformsozialistisches Grundeinkommensmodell böte, nicht unterschätzen.

Zeitwohlstand wird, im Gegensatz zu dem ausschließlich über Konsum definierten und die ökologisch Lebensgrundlagen langfristig in Frage stellenden Wohlstand, zukünftig in unserer Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen. Johano Strasser schreibt in einer Stellungnahme zum Schröder-Blair-Papier: „Wir wollen eine Gesellschaft, in der neben der Arbeit auch die Muße“ und das zweckfreie Spiel anerkannt werde. Neben der ins Leben eingreifenden Tat solle auch das beschauliche Nachdenken, neben der geschickten Vertretung der eigenen Interessen auch Liebe und Selbstlosigkeit als menschliche Möglichkeiten die ihnen zukommende Anerkennung finden, heißt es in dieser für die Aktion für mehr Demokratie verfassten Analyse.

aus dem niederrhein magazin 4/99